Verwaltungsgerichtsverfahren
Dr. Rolf Gössner (Kläger) ./. Bundesrepublik Deutschland,
vertreten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (Beklagte)
Hintergrund-Informationen
zur Überwachungsgeschichte und zum Verfahrensverlauf
Das
Verwaltungsgericht Köln stellte in seinem Urteil vom 03.02.2011 fest, dass die
geheimdienstliche Dauerbeobachtung des Rechtsanwalts, Publizisten und
Vizepräsidenten der Internationalen Liga für Menschenrechte, Rolf Gössner, über
die gesamte Zeitdauer von 1970 bis Ende 2008 (38 Jahre) rechtswidrig war und
dem Betroffenen ein Anspruch auf Rehabilitierung zustehe. Inzwischen hat das
Verwaltungsgericht Köln seine schriftliche Urteilsbegründung vorgelegt. Noch
ist das Urteil nicht rechtskräftig (Stand: Anfang April 2011).
Im Folgenden
sind Hintergrund-Informationen zur Überwachungsgeschichte und zum
Verfahrensverlauf zusammengestellt:
I. Rolf Gössner stand seit 1970
ununterbrochen unter Beobachtung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) –
schon als Jurastudent, später als Gerichtsreferendar und seitdem ein
Arbeitsleben lang in allen seinen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen als
Publizist, Rechtsanwalt und parlamentarischer Berater, später auch als Präsident/Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte
und als Mitherausgeber des alljährlich
erscheinenden Grundrechte-Reports, seit
2007 als gewähltes (parteiloses) Mitglied der Innendeputation der Bremer
Bürgerschaft und selbst noch als stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof
der Freien Hansestadt Bremen. Erst am 13.11.2008, unmittelbar vor der 1.
mündlichen Verhandlung, wurde die Beobachtung überraschend eingestellt. Es
dürfte die längste Dauerbeobachtung einer unabhängigen Einzelperson durch den
Geheimdienst sein, die bislang dokumentiert werden konnte – ohne dass diese
jemals selbst als „Extremist“ oder „Verfassungsfeind“ eingestuft wurde.
Im Laufe der Zeit ist ein
Personendossier von über 2.000 Seiten entstanden, das nach Aussagen der
Beklagten ein „Gesamtbild“ des Klägers ergeben und dessen „Gesamtverhalten“
widerspiegeln sollte. Zur Last gelegt wurden
dem Kläger Rolf Gössner berufliche und ehrenamtliche Kontakte zu angeblich
„linksextremistischen“ und „linksextremistisch beeinflussten“ Gruppen und
Veranstaltern – wie etwa DKP, Rote Hilfe
oder die Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes (VVN), aber auch zu Presseorganen wie Demokratie und Recht, Blätter
für deutsche und internationale Politik, Geheim, Junge Welt oder Neues Deutschland, in denen er - neben
vielen anderen Medien (etwa Frankfurter
Rundschau, Freitag, Die Woche, die tageszeitung, Weser-Kurier; Computerwoche,
Neue Kriminalpolitik; Hörfunk- und TV-Sender) – veröffentlichte, denen er
Interviews gab oder in denen über seine Aktivitäten berichtet wurde. Mit seinen
Kontakten, publizistischen Beiträgen, Vorträgen und Diskussionen habe er diese inkriminierten
Gruppen und Organe „nachhaltig unterstützt“, so der Vorwurf des BfV an den
parteilosen Bürgerrechtler.
„Hier wurde aus vollkommen legalen und
legitimen Berufskontakten eine verfassungswidrige ‚Kontaktschuld’ Gössners
konstruiert“, so die Internationale
Liga für Menschenrechte, „die schließlich
als waghalsige Begründung für seine jahrzehntelange geheimdienstliche Beobachtung
herhalten muss. Dies ist ein ungeheuerlicher Vorgang.“
Das BfV begnügte sich nicht allein mit den Kontakten
Gössners, sondern machte sich inzwischen auch an die Interpretation seiner
öffentlichen Äußerungen, maßt sich damit eine Deutungshoheit über seine Texte
an und übt sie in geradezu inquisitorischer Weise aus. Diese ideologisch gesättigten
Textinterpretationen „führen uns in die tiefsten 1960er und 70er Jahre des
Kalten Krieges“ (so Anwalt Udo Kauß): Da wird schon zum „Verfassungsfeind“, wer das
KPD-Verbotsurteil kritisiert oder den Begriff „Berufsverbote“ verwendet, die es
in der Bundesrepublik angeblich nie gegeben habe. Da diffamiert die
Bundesrepublik und ihre Staatsorgane, wer - wie der Geheimdienstkritiker
Gössner - den Verfassungsschutz in Frage stellt und wird mit
Verfassungsschutzbeobachtung nicht unter vier Jahrzehnten bestraft.
II. Nachdem Rolf Gössner bereits Ende 2005 gegen die
Bundesrepublik Deutschland Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln wegen dieser
ununterbrochenen und rekordverdächtigen Geheimdienst-Beobachtung eingereicht
hatte, kam es Ende 2008 zur ersten mündlichen Verhandlung. Wenige
Tage davor teilte das BfV dem Gericht überraschend mit, dass die Beobachtung
nach 39 Jahren eingestellt worden sei und alle erfassten Daten „löschungsreif“
seien, also gesperrt würden und nicht mehr verwendet werden dürften.
Einer der Gründe,
weshalb der Kläger plötzlich nicht mehr beobachtet werden müsse, ist höchst
bemerkenswert: Die Bedrohungslage habe sich geändert und die knappen Ressourcen
müssten nun für andere Schwerpunkte eingesetzt werden – nach 39 Jahren, in
deren Verlauf die DDR unter- und der Kalte Krieg zu Ende ging und der
internationale Terrorismus als neue Gefahr erkannt wurde! Die teils merkwürdige, teils unglaubwürdige, teils
lächerliche Begründung der Beobachtungseinstellung lässt eher darauf schließen,
dass nach einem Notausstieg gesucht wurde, um eine unhaltbare Situation zu beenden.
Die Liga hält die Einstellung der
Beobachtung Ende 2008 für einen großen Erfolg in dem Verfahren, der ohne Klage
wohl nie zustande gekommen wäre. Der Kläger, der ansonsten wohl immer noch und bis ins hohe Rentenalter
unter Bewachung stünde, wird in diesem Verfahren von ver.di - Deutsche
Journalistinnen- und Journalisten-Union und vom Verband Deutscher Schriftsteller unterstützt. Zuvor hatten zahlreiche
Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Juristenvereinigungen
und Schriftsteller - unter ihnen Günter Grass, Dieter Hildebrandt, Horst-Eberhard
Richter - gegen seine Überwachung protestiert. 2008 ist Rolf Gössner zusammen
mit den anderen Mitherausgebern des jährlich erscheinenden "Grundrechte-Report - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in
Deutschland" (Fischer TB) die Theodor-Heuss-Medaille der
Theodor-Heuss-Stiftung (Stuttgart) verliehen worden - für "vorbildliches demokratisches Verhalten, bemerkenswerte Zivilcourage
und beispielhaften Einsatz für das Allgemeinwohl".
Rolf Gössners Klage war auf
vollständige Auskunft des BfV über alle zu seiner Person gespeicherten Daten
gerichtet. Außerdem sollte die Rechtmäßigkeit der Gesinnungsschnüffelei und
Datenerfassung gerichtlich überprüft werden. Das Gericht verpflichtete das BfV
dazu, Gössners gesamte Personenakte vorzulegen. Dies ist auch geschehen –
allerdings zum größten Teil mit entnommenen Seiten und geschwärzten Textstellen:
Von allen über 2.000 vorgelegten Aktenseiten sind die meisten ganz oder
teilweise unleserlich oder manipuliert oder gar nicht vorgelegt worden; nur ein
geringer Prozentsatz der Seiten ist offen und vollständig lesbar.
Die Verheimlichung ganzer
Aktenteile geht auf umfangreiche Sperrerklärungen des Bundesinnenministeriums
(BMI) als oberster Aufsichtsbehörde des BfV zurück. Begründung: Würde ihr Inhalt bekannt, könnte dies dem „Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile
bereiten“; die Funktionsfähigkeit des Verfassungsschutzes (VS) würde
beeinträchtigt, wenn verdeckte Arbeitsweise und operative Interessen bekannt werden
(„Ausforschungsgefahr“). Die Geheimhaltung diene aber in erster Linie dem
Schutz der Informationsquellen, deren Identität nicht enttarnt werden dürfe
(„Quellenschutz“), weil ansonsten eine „Gefährdung
von Leben, Gesundheit oder Freiheit“ von V-Leuten, Hinweisgebern und
VS-Bediensteten zu befürchten sei.
III.
Gegen diese Aktenverweigerung klagte Rolf Gössner parallel vor dem hierfür
zuständigen Bundesverwaltungsgericht, um Sperrerklärungen und Geheimhaltung in
einem so genannten In-camera-Verfahren überprüfen zu lassen. Dabei handelt es
sich um ein rechtsstaatlich hoch problematisches Geheimverfahren ohne Mitwirkungsmöglichkeit
des Klägers - eine zwangsläufige Folge von Geheimdienstarbeit, die sich bis
hinein in justizielle Verfahren verlängert. Nach ihrer Auswertung der gesperrten
Aktenteile in geheimer Sitzung kamen die höchsten Verwaltungsrichter zu dem von
BMI und BfV geforderten Ergebnis, dass die entsprechenden Aktenteile weiterhin
aus Gründen des Quellenschutzes, der Ausforschungsgefahr und des Staatswohls
geheim gehalten werden müssten. Damit konnte das Verwaltungsgericht Köln nur
auf solch eingeschränkter Informationsbasis seine Entscheidung über
Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit dieser Dauerbeobachtung treffen.
Trotz dieser höchstrichterlich
gebilligten Beweismittelverweigerung im staatlichen Geheimhaltungsinteresse
ist die verbleibende Dokumentensammlung (Personenakte) dennoch recht
aufschlussreich: So erstaunt etwa, wie viele Behörden, andere Stellen und
Personen sich in diesem Fall als denunziatorische Zuträger für den Verfassungsschutz
betätigt haben und wie viele Spitzelberichte über Gössners Vorträge und sonstige
Aktivitäten angefertigt worden sein müssen.
IV. Diese Überwachungsgeschichte ist ein brisantes
Lehrstück in Staatskunde, ein Lehrstück in Sachen Bürgerrechte und Demokratie. Das Gerichtsverfahren hat nach Auffassung der Liga über den
Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung, denn es geht um ein brisantes
Problem, das auch andere Publizisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtler
betrifft: Welche Grenzen sind den kaum kontrollierbaren Nachrichtendiensten und
ihren geheimen Aktivitäten gezogen – gerade im Umgang mit
Berufsgeheimnisträgern und im Rahmen unabhängiger Menschenrechtsarbeit von
Nichtregierungsorganisationen?
Dazu RA Kauß: „Die geheimdienstliche Langzeitüberwachung eines Anwalts, Publizisten
und Menschenrechtlers verletzt Persönlichkeitsrechte, Informantenschutz,
Mandatsgeheimnis und die ausforschungsfreie Sphäre, die für regierungsunabhängige
Menschenrechtsgruppen unabdingbar ist“. Dazu zählten eben auch berufliche
Kontakte zu „inkriminierten“ Gruppen und Personen, die der Verfassungsschutz
für beobachtenswert hält. „Kritischer
Dialog und offene politische Auseinandersetzung dürfen nicht unter
geheimdienstliche Beobachtung und Kuratel gestellt werden“, ergänzt
Liga-Vizepräsident Rolf Gössner: „Das
würde keine freiheitliche Demokratie auf Dauer aushalten.“
So ähnlich hat es das Verwaltungsgericht Köln
wohl auch gesehen (Urteil vom 3.02.2011; Az. 20 K 2331/08)
Das Urteil ist Mitte 2015, also noch mehr als vier Jahren, immer noch nicht rechtskräftig, weil die Bundesregierung die Zulassung der Berufung beantragt hatte und das zuständige Oberverwaltungsgericht Münster/NRW immer noch nicht darüber entschieden hat.
Links zur Berichterstattung nach dem Urteil des VG Köln
(Auswahl):
DER SPIEGEL: www.spiegel.de/spiegel/vorab/0,1518,754650,00.html
VERDI-PUBLIK: http://publik.verdi.de/2011/ausgabe-03/gesellschaft/gesellschaft/seite-9/A0
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG: www.sueddeutsche.de/politik/buergerrechtler-im-visier-des-verfassungsschutzes-vierzig-jahre-unter-beobachtung-1.1055746
FRANKFURTER RUNDSCHAU: www.fr-online.de/politik/fast-40-jahre-lang-rechtswidrig-ueberwacht/-/1472596/7152812/-/index.html
DIE TAGESZEITUNG: www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=in&dig=2011%2F02%2F04%2Fa0044&cHash=6449cc8e1f
www.taz.de/1/nord/artikel/1/spitzel-ohne-kontrolle/
http://taz.de/1/nord/artikel/1/ich-vermisse-nichts/
NEUE RHEINISCHE ZEITUNG: www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16162
OSSIETZKY: www.sopos.org/aufsaetze/4cd2964854b77/1.phtml
STERN: www.stern.de/politik/deutschland/verfassungsschutz-schlapphuete-sehen-rot-612872.html